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Umsiedlung aus Galizien

Umsiedlung aus Galizien

Helmut Schneider wird am 11. Januar 1945 in Lilienfeld im Wartheland geboren. Der Verlauf seiner ersten Lebensjahre ist stark geprägt von den sich für die Zivilbevölkerung zuspitzenden Ereignissen eines schrecklichen Krieges und seinen Folgen.

Ende 1939 / Anfang 1940 werden ca. 50.000 deutschstämmige Galizier ins Deutsche Reich umgesiedelt. Auch die Eltern von Helmut Schneider sind davon betroffen.

Um das bewegte Leben von Helmut Schneider verstehen zu können, richten wir unseren Blick zunächst auf das Jahr 1781.

Ansiedlungspatent 1781

“Die Lage des Handwerks und der Landwirtschaft ist zur Zeit der Konstituierung des Kronlandes Galizien im Vergleich zu den westeuropäischen Ländern äußerst rückständig. Joseph II. beschließt daher in seinem Ansiedlungspatent vom 17. September 1781, Gewerbetreibende, Handwerker und Bauern für das neue Kronland anzuwerben. Keineswegs ist hier an eine Germanisierung des Landes gedacht, vielmehr versprach man sich von den Neusiedlern eine lehrreiche Vorbildfunktion. Infrage kommen insbesondere die Pfälzer vom Rhein, denn durch die unglückliche Realerbteilung waren dort die Landwirtschaften so klein geworden, dass einerseits eine intensive Felderwirtschaft entwickelt werden musste, andererseits für die Bauern handwerkliche Fähigkeiten zum nötigen Nebenerwerb erforderlich waren.

Der Anreiz zur Abwanderung nach Galizien war groß, denn die Behörden stellten den neuen Kolonisten Land, Wohnhaus, Stall, Vieh und Ackergeräte kostenlos zur Verfügung. Die Größe der Höfe betrug nach heutigem Flächenmaß etwa 4, 8 oder 15 Hektar, sie hing ab von der Höhe des mitgebrachten Kapitals, der Familiengröße und der Güte des Ackers. Die Kolonisten waren für zehn Jahre von allen Abgaben befreit, die Hofbesitzer und ihre ältesten Söhne vom Militärdienst freigestellt.

Vom Juni 1782 bis zum Januar 1786 kamen 14.735 Kolonisten ins Land. Sie wurden entweder in neu gegründeten Dörfern oder in Erweiterungen bereits bestehender Dörfer (sogenannte Attinenzen) angesiedelt. Auch danach gibt es noch kleinere Einwanderungswellen.”
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Galiziendeutsche#Herkunft_der_Siedler
https://de.wikipedia.org/wiki/Galizien

Helmut Schneiders Vorfahren, die ebenfalls aus der Pfalz stammen, zieht es nach Galizien. Die Familien Göres und Schneider bauen sich eine Existenz als Bauern mit einer eigenen kleinen Landwirtschaft auf. Familie Schneider betreibt dazu Gasgruben.

Von Mariusz Pazdziora, translated by NordNordWest - Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4805801

Helmuts Mutter, Emilie Göres, wird 1919 in Konstantynowka in Galizien geboren. Konstantynowka war eine im 19. Jahrhundert entstandene deutsche evangelische Kolonie. Heute gehört Kostjantyniwka zur Ukraine. Emilies späterer Wohnort Essenrode liegt ca. 1.200 km entfernt.

Helmuts Vater, Wilhelm Schneider, wird 1913 in Gelsendorf, Galizien, geboren. Zwischen seinem Geburtsort und dem seiner späteren Frau Emilie, liegen etwa 120 km.

Hitler-Stalin-Pakt und die Umsiedlung

Um verstehen zu können, wie Emilie und Wilhelm zueinander finden, heiraten und Helmut geboren wird, richten wir den Blick auf die Ereignisse des Jahres 1939, also gut fünf Jahre vor Helmuts Geburt.

Im Jahre 1939 wird Galizien schon vor Beginn des Zweiten Weltkrieges zwischen Hitler und Stalin aufgeteilt. Noch vor Ende des Krieges gegen Polen wird eine deutsch-sowjetische Kommission gebildet und die Registrierung aller Personen und deren Eigentum vorgenommen. Ende 1939/Anfang 1940 werden ca. 50.000 deutschstämmige Galizier ins Deutsche Reich umgesiedelt. Dies verläuft sehr chaotisch. Über verschiedene Lager, oftmals sind die Männer und Söhne und die Mütter mit den Töchtern in unterschiedlichen Lagern untergebracht, werden die Deutschen in den annektierten Reichsgau Wartheland gebracht. Es gibt Familien, die über den Umweg von Lagern in Berlin und Sachsen nach Oberschlesien kommen. Damit ist die Geschichte der Deutschen in Galizien beendet. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Galizien

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wartheland.png?uselang=de

Reichsgau Wartheland

Die Familien Göres und Schneider sind in der ersten zum Teil chaotisch ablaufenden Umsiedlungs welle nicht dabei. Sie bleiben noch bis 1941 in Galizien und werden dann direkt in den “Reichsgau” Wartheland umgesiedelt. Die Unterbringung in einem Übergangs lager bleibt ihnen erspart. Sie werden direkt auf Höfe verteilt.

Am 13. März 1943 heiraten Emilie und Wilhelm. Wilhelm ist zu diesem Zeitpunkt bereits von der Wehrmacht eingezogen und erhält Heiratsurlaub. Seine Einheit ist das Wachbataillon, das zunächst zum Schutz der “Wolfsschanze”, Hitlers Führerhauptquartier in Ostpreußen, eingesetzt ist. Als Hitler sich nach Berlin zurückzieht übernimmt das Wachbataillon den Schutz des Führerbunkers in Berlin.

Anfang 1944 sehen sich die Eheleute ein letztes Mal. Emilie wird schwanger und bringt neu Monate später, am 11. Januar 1945, Helmut in Lilienfeld im Warthegau zur Welt.

Flucht aus dem Wartheland nach Sandersdorf

Am 31. Januar 1945 muss Emilie mit ihrem gerade drei Wochen alten Helmut aus Hohensalza im Warthegau vor der herannahenden Roten Armee fliehen. Frauen mit kleinen Kindern werden in den Zug in Richtung Westen gesetzt. Und so werden Emilie und ihr kleiner Sohn Helmut von Emilies Eltern getrennt. Marie und Johann Göres gehen mit Pferd und Wagen im Treck auf die Flucht.

Der Zug fährt bis Leipzig und von dort geht es nach Sandersdorf bei Bitterfeld. Der Ort liegt ca. 500 km entfernt von Hohensalza, dem Ausgangspunkt ihrer Flucht. Hier erleben Emilie und Helmut das Kriegsende. Sie erleben aber auch die sowjetische Besatzung und die sich abzeichnende Entstehung der DDR.

Flucht von Sandersdorf nach Essenrode

In Sandersdorf erfährt Helmuts Mutter, dass ihre Eltern und Verwandte nach Essenrode geflüchtet sind. Nun unterstützt sie Verwandte, die mit ihr in Sandersdorf leben, bei der Flucht über die innerdeutsche Grenze nach Essenrode. Schließlich entschließt auch sie sich zur Flucht nach Essenrode. Ende April 1949 macht sie sich mit ihrem Sohn auf den Weg in den Westen. Mit dem Zug geht es zunächst bis Oebisfelde, nahe der innerdeutschen Grenze und dann in den nahegelegenen Ort Wassensdorf zu Verwandten. Um auf der Flucht keinen Verdacht zu wecken, ist die Reise als Verwandtenbesuch “getarnt”. Im Morgengrauen des 1. Mai 1949 nutzt Emilie mit ihrem Sohn den Wachwechsel der russischen Soldaten an der innerdeutschen Grenze zur Flucht in den Westen. Ihre Flucht gelingt bei Grassleben. Da Straßen und Brücken bombardiert und zerstört sind, muss der 4-jährige Helmut an der Hand seiner Mutter über die Eisenträger einer zerstörten Brücke in den Westen balancieren. Immer wieder rutschen seine kleinen Füßchen von den Eisenträgern und immer wieder hält ihn seine Mutter fest an seiner Hand. Schließlich erreichen beiden auf dem Weg von Grasleben über Jelpke Essenrode.

Nun geht eine Flucht, die für Emilie im 1.200 km entfernten Konstantynowka in Galizien zunächst mit der Umsiedlung begonnen hatte, zu Ende. Auch wenn der Krieg und die Flucht jetzt zu Ende sind, werden die Folgen des NAZI Terrors und der Schrecken des Krieges Helmut sein Leben lang begleiten. Seinen Vater Wilhelm wird Helmut auch nach Ende des Krieges nicht kennen lernen. Die letzte Nachricht erreicht Helmut und seine Mutter aus April 1945. Seit diesen Tagen, kurz vor Ende eines menschenverachtenden 2. Weltkrieges, gilt Wilhelm Schneider als vermisst.

Später heiratet Emilie in Essenrode Rudi Dosdall.