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Flucht aus Walbeck in der DDR

Die Flucht aus Walbeck in der DDR

Irmchen Remus wird am 28. Juli 1935 als Irma Meyer in Weferlingen geboren. An diesem Tag ahnt noch niemand, dass Deutschland 10 Jahre später geteilt sein wird.

Ihre ersten Lebensjahre verbringt Irma hauptsächlich bei ihren Großeltern in Weferlingen, die sich liebevoll um sie kümmern. Während ihre Mutter tagsüber arbeiten geht, arbeitet die Oma nachts. Ihren Vater wird Irma nicht kennen lernen.

Als Irma eingeschult wird, zieht sie zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater nach Walbeck. Das Kriegsende erlebt sie noch während ihrer Schulzeit. Zunächst ist die Freude groß, als amerikanische Soldaten in Walbeck ankommen. Die Kinder freuen sich über die Schokolade und das Kaugummi. Doch weniger Wochen später übernehmen die Russen Walbeck. Als 13-Jährige erlebt sie, wie Walbeck unter russische Besatzung gestellt wird. Nur einen Steinwurf entfernt von ihrem Elternhaus wird Deutschland geteilt. Es entsteht die Deutsch-Deutsche-Grenze.

1948 muss Familie Meyer ihr Haus räumen. Da Irmas Elternhaus direkt an der Grenze zum Westen liegt, beschlag- nahmen russische Offiziere das Haus. Vom Haus aus haben sie direkte Sicht auf die am Klosterberg verlaufende Grenze. Innerhalb von vier Stunden muss die fünfköpfige Familie ihr Haus räumen und erhält eine Zwei-Zimmer-Wohnung zugewiesen.

Irmas Elternhaus in Walbeck; Foto: privat

Die Russen bleiben ein Jahr lang im Haus. Vier Wochen vor Irmas Konfirmation im Frühjahr 1949 darf die Familie in ihr Haus zurückkehren.

Die innerdeutsche Grenze ist zu dieser Zeit noch nicht befestigt, so dass die Menschen nach wie vor vom Osten in den Westen und wieder zurück über die Grenze gehen. Auch Irma und ihre Freundinnen passieren die „grüne Grenze“ immer wieder.

Als sie an einem Tag nach dem Besuch des im Westteil gelegenen Brunnentheaters in Helmstedt auf dem Heimweg die Grenze passieren, werden Irma und ihre Freundinnen von russischen Soldaten in Arrest genommen. Sie kommen jedoch nach ein paar Stunden durch die Intervention ihres Stiefvaters wieder frei.

Am 28. Juli 1949 verlässt Irma Meyer die Schule in Walbeck. Während in den Schulen im Westen Englisch als Fremdsprache gelehrt wird, wird im Osten Russisch unterrichtet. Und so beendet Irma mit der Note 2 in Russisch die Schule.

Wenige Monate nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Westen, wird am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik gegründet, die DDR. Die Sicherung und Bewachung der innerdeutschen Grenze im Osten wird von den russischen Truppen an die Grenztruppen der DDR übergeben. Die

Flagge der DDR

Grenze wird nun nach und nach stärker bewacht.

Für die knapp 17-jährige Irma wird das Leben immer unerträglicher. Das angespannte Verhältnis zum Stiefvater, aber vor allem auch die mehr und mehr zu spürende Unfreiheit in der sich entwickelnden sozialistischen DDR lässt in Irma einen Entschluss reifen. Als sie im Ort hört, dass die Grenze „dicht gemacht“ werden soll, entscheiden sie und zwei befreundete Jungs aus Walbeck sich zur Flucht in den Westen. Am 13. Mai 1952 machen sich die drei mit einem Handwagen auf den Weg Richtung Grenze. Begleitet werden sie von Maria, der Schwester eines der Jungen. Sie selbst will nicht fliehen, sondern den dreien dabei nur helfen. Ein Handwagen wird zur Tarnung – man wolle im Wald Holz sammeln – mitgenommen. Darin werden ein Paar Wechselschuhe versteckt, die man nach der Durchquerung der Riole, einem kleinen Bachlauf, anziehen will.

Als die kleine Gruppe an der Grenze auf patrouillierende Grenzsoldaten trifft, wird sie angehalten. Da die Jugendlichen die Grenzer kennen, erklären sie, man wolle Holz sammeln. Sie dürfen weiterziehen. Maria bringt die drei mit dem Handwagen den Klosterberg hinunter bis zur Riole. Dort queren Irma und die beiden Jungs den Bachlauf, ziehen sich auf der anderen Seite die trockenen Schuhe an und machen sich auf den Weg in das nahe gelegene Helmstedt zum Bahnhof. Später beschreibt Irma den Moment in Freiheit so:

In Helmstedt hatten wir ein Gefühl, das ist unbeschreibbar. Wir waren frei.

– Irma Remus, im Zeitzeugeninterview am 2. Oktober 2019

Während die beiden Jungen in Helmstedt bleiben, kauft sich Irma eine Zugfahrkarte und fährt mit dem Zug nach Wenden bei Braunschweig zu einer Tante. Die Flucht ist für die drei Jugendlichen nicht ganz unvorbereitet. Einer der beiden Jungen tritt gleich eine Stelle als Bäcker in Helmstedt an und Irma fährt bereits am nächsten Tag nach Essenrode. Dort wird sie von einer anderen Tante erwartet, die ihr eine Stelle bei Familie Gaus im Haushalt besorgt hat. Später bekommt sie eine Stelle bei dem Bauern Weber im Haushalt.

Was die drei Jugendlichen einige Zeit zuvor gehört hatten – die Grenze wird dicht gemacht – sollte sich nun bewahrheiten. Als immer mehr Menschen die durchlässige Grenze zur Flucht in den Westen nutzen, werden Stacheldrahtzäune errichtet und Hunde zur Bewachung eingesetzt. Einige Jahre später wird die Grenze zu einem kaum überwindbaren Bollwerk.

Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.

– DDR Staatsratschef Walter Ulbricht am 15. Juni 1961

Der Mauerbau und die Befestigung der innerdeutschen Grenze begannen mit einer Lüge. Die Journalistin Annemarie Doherr der Frankfurter Rundschau stellte am 15. Juni 1961 in einer Pressekonferenz eine Zusatzfrage an DDR-Staatsratschef Walter Ulbricht. Ulbricht versicherte, es werde keine Mauer gebaut. Zwei Monate später ist die Berliner Mauer gebaut. Fast 30 Jahre lang sollte sie Deutschland trennen.

innerdeutsche Grenze bei Hötensleben; Foto: privat

„Die schmerzlichsten Folgen hatte der Mauerbau jedoch für die Menschen in Ost-Berlin und der DDR. Denn sie hatten nun kein „Schlupfloch“ mehr nach Westen. Und wer über die Mauer oder die innerdeutsche Grenze fliehen wollte, musste damit rechnen, erschossen zu werden. Dass es den „Schießbefehl“ tatsächlich gab, ist seit einigen Jahren auch schriftlich belegt. Viele Menschen haben bei Fluchtversuchen ihr Leben gelassen.“ Quelle: www.bundesregierung.de/breg-de/themen/deutsche-einheit/-niemand-hat-die-absicht-eine-mauer-zu-errichten–393932, abgerufen 19.02.2020

Bereits vor dem Mauerbau und der Errichtung der kam überwindbaren Grenzbefestigungen, kommen Menschen beim Versuch die Grenze zu überqueren ums Leben. Zu den vielen Menschen, die an der Grenze ihr Leben gelassen haben, zählt auch Irmas Vater. Zwei Tage vor seinem vierzigsten Geburtstag, am 28. Januar 1949, um 20:30 Uhr kommt Otto Karl Meyer an der Grenze ums Leben. In seiner Sterbeurkunde wird als Todesursache vermerkt: „Tod durch Erschießen“.

Otto Meyer war zum Verhängnis geworden, als Fluchthelfer Menschen von Weferlingen nach Grasleben zur Flucht über die Grenze in den Westen zu verhelfen. Am 28. Januar 1949 um 20:30 Uhr wird Otto Meyer von einem russischen Soldaten an der Grenze in der Nähe von Weferlingen auf einer Wiese erschossen. Von dem Tod ihres Vaters wird Irma erst viele Jahre später erfahren. Otto Meyer ist in Weferlingen begraben.

Ein Jahr nach Irmas Flucht entscheidet sich auch der jüngere Bruder Heinz zur Flucht und flieht nach Essenrode. Mutter, Stiefvater und der jüngste Stiefbruder Klaus bleiben in Walbeck.

Als Irma im Mai 1952 in Essenrode ankommt, fühlt sie sich gut aufgenommen und findet gleich Freunde. Die Verwandten in Essenrode, die neuen Freundinnen und die Junge Gesellschaft mit dem Fahnenjagen haben großen Anteil daran, dass Irma sich schnell in Essenrode zuhause fühlt.

Irmas Mutter Martha; Foto: privat

Irma vermisst aber trotz allem ihre Mutter sehr. 1957 besucht die Mutter Irma in Essenrode zur Verlobung mit Paul Remus, ihrem späteren Ehemann. Kurze Zeit nach der Verlobung erhält Irma die Nachricht vom Tod ihrer Mutter. Sie stirbt 43-jährig am 21. September 1957. Irma und ihr Ehemann Paul erhalten die Einreisegenehmigung zu Beerdigung nach Walbeck. Danach gibt es für Irma keine Möglichkeit mehr Walbeck zu besuchen. Aufgrund der Lage unmittelbar an der Grenze ist Walbeck Sperrgebiet und darf auch von DDR Bürgern nur mit Ausnahmegenehmigung betreten werden.

1958 heiratet Irma Paul Remus, der schon im März 1945 nach einer zweimonatigen Flucht aus Pommern in Essenrode angekommen war. Im November 1958 wird ihre Tochter Bettina geboren. Gemeinsam mit den Schwiegereltern bauen sie ein Haus. Im November 1960 wird Sohn Roland und im Februar 1968 Sohn Torsten geboren.

Erst 33 Jahre später, mit dem Fall der Mauer, wird Irma Walbeck wieder besuchen. Seitdem ist sie immer wieder gerne in Walbeck und Weferlingen. Und der Mauerfall hielt für Irma noch eine weitere Über-raschung bereit. Eine weitere Tochter ihres Vaters von der sie bis dahin nichts wusste, tauchte auf – Irmas Halbschwester Erika.

Blick von der Ruine der Stiftskirche St. Marien über Walbeck auf den Klosterberg; Foto: privat