Vertreibung aus Schlesien
Dorchen Remus wird am 8. Juli 1935 als zweites Kind ihrer Eltern in dem kleinen schlesischen Ort Tscherbeney in der Grafschaft Glatz als Dorothea Gebauer geboren. Schon bald wird sie von allen Dorchen genannt.
Als Dorchen 1 1/2 Jahre alt ist, stirbt die Mutter. Nach dem Tod der Mutter werden sie und ihr Bruder Siegfried getrennt und kommen jeweils zu den Großeltern. Als der Vater 1941 ein zweites Mal heiratet, kehrt Dorothea zur Einschulung in die Familie zurück, die zwischenzeitlich in ein Fabrikhaus nach Sakisch gezogen ist. Vater und Mutter arbeiten in der Weberei Christian Dierig in Sakisch-Gellenau. Wenig später wird der Vater als Soldat eingezogen.
Dorchen bleibt nach Kriegsende vorerst in Sakisch. Wie Tausende andere Deutsche wird sie bald darauf aus Schlesien vertrieben. Die Vertreibung ist eine Folge der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten.
„Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde Tscherbeney 1937 in Grenzeck umbenannt. Als Folge des Zweiten Weltkriegs fiel Tscherbeney / Grenzeck 1945 wie fast ganz Schlesien an Polen und wurde zunächst in Czerwone und später in Czermna umbenannt. Die deutsche Bevölkerung wurde zum größten Teil vertrieben. Schon vorher waren zahlreiche Bewohner über die nahe Grenze in die Tschechoslowakei geflohen. Die neuen Siedler waren ihrerseits zum Teil Heimatvertriebene aus Ostpolen. In den 1950er Jahren wurde Czermna nach Kudowa-Zdrój eingemeindet.“ Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Czermna
Schlesien und das Sudetenland waren bis zum Kriegsende vergleichsweise ruhiges Hinterland und Evakuierungsgebiet für die vom Bombenkrieg stark betroffene Bevölkerung der westlicher gelegenen Städte und Industrieregionen.
Im Januar 1945 begannen auch in Schlesien die Menschen vor der Roten Armee zu fliehen, teils nach Sachsen und Thüringen, teils über das Riesengebirge ins Sudetenland.
Polen, das 1939 durch Hitler und Stalin zum vierten Mal in seiner Geschichte von Deutschen und Russen geteilt worden war und nach dem Zweiten Weltkrieg einen Großteil seines Vorkriegs-Staatsgebietes im Osten auch nicht wiederbekam, wurde mit Schlesien, Pommern und dem südlichen Teil Ostpreußens entschädigt. Es wollte diese Gebiete möglichst rasch von ihren deutschen Bewohnern leeren, um künftigen Anschlussbestrebungen nach Deutschland vorzubeugen und seine These zu untermauern, es handele sich hier sowieso um wiedergewonnene urpolnische Gebiete. Zugleich sollten dort die Menschen untergebracht werden, die aus dem bei der Sowjetunion verbliebenen Landesteil vertrieben wurden.“
Quelle:.https://www.lwl.org/aufbau-west/LWL/Kultur/Aufbau_West/flucht/flucht_vertreibung/ablauf/index.html
Kriegsende in Sakisch
Während Dorchens Vater noch nicht wieder aus dem Krieg zurückgekehrt ist, bleibt Dorchen mit ihrer „zweiten“ Mutter und ihrer 1942 geborenen Schwester Lenchen über das Kriegsende hinaus in der Fabrikwohnung der Weberei wohnen. Drei Tage bevor die Russische Armee in Sakisch einmarschiert, bringt Dorchens Mutter die Zwillinge Evi und Günther zur Welt. Das Kriegsende wird der 9-jährigen Dorchen bewusst, als sie auf dem Weg zu den Zwillingen im Krankenhaus russische Soldaten durch die Straßen von Sakisch fahren sieht. Dorchen und ihre Familie machen in Sakisch keine schlechten Erfahrungen mit russischen Soldaten. Eine der Wohnungen in dem Fabrikhaus, in dem auch sie mit ihrer Familie lebt, muss für die russische Kommandantur geräumt werden. Später wohnen polnische Soldaten als Untermieter im Haus. Heute sagt sie dazu:
Dadurch blieben wir vor Plünderungen und Übergriffen verschont. Die Russen waren zu uns Kindern gut. Sie haben Spielzeug für uns gebastelt und mit uns Lieder gesungen.Dorothea Remus im Zeitzeugeninterview 2019
Vertreibung
Bis zum 22. März 1946 bleibt Dorchen mit Mutter und Geschwistern in Sakisch. Dann ereilt auch sie das Schicksal der Vertreibung. Am 22. März werden sie, wie alle anderen dort verbliebenen Deutschen aufgefordert, Schlesien, das nun zu Polen gehört, zu verlassen. Die Wohnung muss sofort geräumt werden. Die Nacht verbringen sie im Finanzamt in Glatz. Am nächsten Morgen geht es zum Bahnhof. Von dort geht die Fahrt in Viehwaggons weiter ins Ungewisse.
Der Zug, der in Richtung Westen fährt, macht zwischendurch immer wieder halt. Das Deutsche Rote Kreuz versucht so gut es geht Essen zu verteilen. In Kohlfurt werden alle Zuginsassen entlaust.
„Der Aufenthalt der Züge in Kohlfurt/Kalawsk sollte im Durchschnitt nicht
länger als drei Stunden dauern. Die Vertriebenen hatten die Waggons zu verlassen und wurden auf dem Bahnsteig in Zweierreihen von den britischen Soldaten, deren Anwesenheit wohlwollend registriert wurde, gezählt. Ebenfalls auf dem Bahnsteig wurden sie dann einer Prozedur unterworfen, die allen Betroffenen in unangenehmer Erinnerung geblieben sein wird, der Entlausung. Jedem wurde mit einem Staubsauger ähnlichen Gerät in fünf Stößen zunächst in die Haare, dann unter das Hemd auf die Haut vorne und hinten ein graues Pulver, DDT, geblasen. Zu dieser Zeit war man noch nicht dafür sensibilisiert, dass DDT nicht nur wirksam Ungeziefer wie Läuse bekämpft, sondern auch für Mensch und Natur äußerst schädlich ist.“ Quelle: MANFRED WOLF, Operation Swallow; Der Weg von Schlesien nach Westfalen im Jahre 1946; Quelle: Westfälische Zeitschrift 34, 1999 / Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ URL: http://www.westfaelische-zeitschrift.lwl.org
Von Kohlfurt setzt der Zug seine Fahrt fort und kommt schließlich in Helmstedt Mariental an. Ein Teil des ehemaligen Militärfliegerhorstes Mariental diente von November 1945 bis April 1947 als Durchgangslager für Vertriebene. Für etwa 750.000 Menschen, die meisten von ihnen aus Schlesien, war Mariental der Zwischenstopp auf einer Bahnfahrt ins Ungewisse. Von hier aus wurden sie auf Dörfer und Städte verteilt.
Ankunft in Wendhausen
Nach ihrer Ankunft übernachten die Menschen aus Glatz im Durchgangslager Mariental, bevor es am nächsten Tag nach Lehre weiter geht. In Lehre werden Dorchen und ihre Familie zunächst in Baracken auf dem Muna Gelände (Munitionsanstalt) untergebracht, bevor die Weiterverteilung auf die umliegenden Orte erfolgt. Die Gemeinschaft der Menschen aus den Fabrikhäusern der Weberei in Sakisch landet schließlich gemeinsam in Wendhausen. In Wendhausen kommen die fünf Gebauers in zwei kleinen Zimmern auf einem Bauernhof unter. Dorchens Vater wird einige Zeit später aus dem Lazarett in Tirschenreuth entlassen und findet den Weg zurück zu seiner Familie. Bei Voigtländer in Braunschweig findet er gleich eine neue Arbeit.
Einige Jahre später verliebt sich Dorchen als junge Frau in Rudi Remus, der im Frühjahr 1945 aus Pommern nach Essenrode geflüchtet ist. Sie heiraten, wohnen zunächst gemeinsam in Wendhausen und 1958 wird ihr Sohn Dieter geboren. In den 1970`er Jahren zieht es sie nach Essenrode, wo sie ein Eigenheim bauen und ein neues Zuhause finden.